(Bildquelle: www.stolpersteine.eu)
Zur Geschichte des Marktfleckens Villmar gehört auch die Zeit von 1933 bis 1945. Das Gedenken an die Opfer sowie die Aufklärung über die menschenverachtende Politik des Nationalsozialismus ist seit Gründung der Bundesrepublik Teil der Erinnerungskultur der deutschen Gesellschaft. Das Stolperstein-Projekt setzt sich dafür ein, die Erinnerung an die Opfer und Verfolgten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch Gedenksteine vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnsitz in unseren Alltag zu holen. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert der Künstler Gunter Demnig, Urheber des Stolperstein-Konzepts, den Talmud. Auf Initiative der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) Villmar hat die Gemeindevertretung am 14. Februar 2019 die Genehmigung zur Verlegung von „Stolpersteinen“ im öffentlichen Raum des Marktfleckens Villmar erteilt. Unterstützt wird das Projekt von einer Arbeitsgruppe zur Recherche der Opfer und Verfolgten sowie durch den Bauhof des Marktfleckens bei der Vorbereitung der Verlegungen.
In einer ersten öffentlichen Veranstaltung des Arbeitskreises am 16. Mai 2019 im Pfarrsaal Villmar wurde über das Projekt ausführlich informiert. Der Künstler Gunter Demnig erinnert an die Opfer der NS-Zeit mit Gedenktäfelchen aus Messing, die in die Bürgersteige eingelassen werden. Darauf sind Name, Geburtsjahr, Deportationsort und Angaben zum weiteren Schicksal der verfolgten Menschen eingraviert. Es geht um das Gedenken, nicht um Schuldzuweisung. Mit den STOLPERSTEINEN wird ausdrücklich auch der Menschen gedacht, die den Holocaust überlebt haben. Sei es, dass sie sich verstecken konnten, ein Lager überlebt haben, flüchten oder auf andere Weise ihr Leben retten konnten.
Gewürdigt werden alle verfolgten oder ermordeten Opfer des Nationalsozialismus:
- Juden
- Sinti und Roma
- politisch Verfolgte
- religiös Verfolgte; Zeugen Jehovas
- Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung
- Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe verfolgt wurden
- als „asozial“ stigmatisierte und verfolgte Menschen: Obdachlose oder Prostituierte
- Zwangsarbeiter und Deserteure
Die Historikerin Linde Apel sieht in den Rechercheergebnissen der einzelnen Stolperstein-Initiativen einen Beitrag zur Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus. Der Fokus auf die Lebensgeschichten der Opfer ist ein zentrales Element der öffentlichen und lokalen Erinnerungskultur. Tausende von Biografien, die andernfalls anonym geblieben wären, wurden aufgearbeitet. Die Zahl der Stolpersteine wächst stetig weiter. Mit über 70.000 Steinen in Deutschland und weiteren 23 europäischen Ländern handelt es sich um das größte dezentrale Mahnmal der Welt – eine „Soziale Skulptur“ (Joseph Beuys).
Die Finanzierung (120 € pro Stein) erfolgt in der Regel über Spenden. Die Stolpersteine werden von der Stiftung-Spuren-Gunter Demnig organisatorisch und operativ geführt.
Mitglieder der Arbeitsgruppe Stolpersteine:
- Paul Arthen (Villmar), Vorsitzender der KAB (Initiator)
- Gertrud Brendgen (Weyer), Ausschuss für Kultur, Sport und Soziales
- Jutta Brahm (Villmar)
- Corina Braun (Weyer)
- Isabelle Faust (Runkel), Rektorin für die Sekundarstufe I, Johann-Christian-Senckenberg-Schule Runkel-Villmar
- Dr. Bernold Feuerstein (Villmar), Ausschuss für Kultur, Sport und Soziales, Vorsitzender des Ortsausschusses für den Kirchort Villmar
- Helmut Hübinger (Villmar), Initiator
- Pfarrer Michael Vogt (Villmar), Pfarrgemeinde Hl. Geist Goldener Grund / Lahn
- Willi Wünschmann (Villmar)
Der Arbeitskreis arbeitet eng mit der Johann-Christian-Senckenberg-Schule am Standort Runkel zusammen, die bereits im zweiten Jahr im Stundenplan den Wahlpflichtkurs „Erinnerungskultur“ etabliert hat. Die Recherchen der Schülerinnen und Schüler und der Mitglieder des Arbeitskreises sind die Grundlage für die Verlegung der Stolpersteine. Hierzu wurden schon umfangreiche Informationen zusammengetragen. Aktuell befasst sich der WPU-Kurs mit der Kontaktaufnahme zu den Nachfahren der Verfolgten und mit der Darstellung der einzelnen Biografien. Zeitzeugen der damaligen Ereignisse und Umstände sind herzlich eingeladen, ihre Erinnerungen und Informationen an den Arbeitskreis oder die Schülerinnen und Schüler weiterzugeben und somit für die Nachwelt zu erhalten.
Ansprechpersonen sind für den Arbeitskreis Bernold Feuerstein und für die Senckenberg-Schule am Standort Runkel Isabelle Faust.
Die Recherchearbeit konzentriert sich im Marktflecken Villmar auf folgende Opfergruppen:
- Ermordete und vertriebene jüdische Mitbürger
- Opfer des organisierten Krankenmordes („Euthanasie“ = griech. „guter Tod“)
- Opfer politischer Verfolgung
Jüdische Einwohner im Ortsteil Villmar werden erstmals im 15. Jh. erwähnt. Im 19. Jh. entwickelt sich ein jüdisches Gemeindeleben mit einem eigenen Lehrer; 1846 kann eine neue Synagoge eingeweiht werden. Der alte jüdische Friedhof befand sich in Arfurt, erst 1930 erhielt die Gemeinde eine Begräbnisstätte im Ort. Die jüdischen Mitbürger waren im Ort bestens integriert und in Vereinen engagiert. Isidor Saalberg leitete um 1900 mehrere Jahre den MGV Teutonia. Siegfried Frank war 1930 Kirmesbursche.
Kirmes Villmar 1930 (Bildquelle: Juden im Kreis Limburg-Weilburg. Schriftenreihe zur Geschichte und Kultur des Kreises Limburg-Weilburg 1991.)
In den Jahren 1933 bis 1941 lebten in Villmar noch zehn jüdische Familien mit insgesamt 38 Personen. 21 jüdische Mitbürger flüchteten nach England, Argentinien und in die USA. Zwei Personen verstarben 1934, zwei weitere 1936 und 1939, letztere infolge des NS-Terrors – sie wurden auf dem jüdischen Friedhof Villmar bestattet. Dreizehn Mitbürger wurden deportiert und ermordet, die letzten davon 1941.
Sally Rosenthal - Salomon „Sally“ Rosenthal (Jg. 1897) wurde 1938 im KZ Buchenwald ermordet. (Bildquelle: Bilder zur Geschichte Villmars 1053–2003, hrsg. Marktflecken Villmar, Wiesbaden, 2003.)
Seit 1988 erinnert ein Mahnmal vor dem jüdischen Friedhof an die Opfer der Verfolgung.
Zur Villmarer Kultusgemeinde gehörten auch die jüdischen Einwohner von Aumenau. Zuletzt wohnte dort ein Ehepaar, das nach erzwungener Geschäftsaufgabe 1937 nach Frankfurt verzog und von dort 1942 deportiert und ermordet wurde.
Die jüdische Gemeinde in Weyer reicht bis Anfang des 18. Jh. zurück, dazu gehörten auch die Orte Oberbrechen und Wolfenhausen, ab 1903 auch Münster. 1875 konnte ein schon seit dem 18. Jh. für den Gottesdienst genutztes Privathaus zu einer Synagoge umgebaut werden. In den 1990er Jahren tauchten mehr als 20 Torawimpel aus dem 18./19. Jahrhundert auf, die noch vor der Pogromnacht 1938 im einstigen Synagogengebäude versteckt worden waren.
Thorawimpel Weyer - Thorawimpel aus der Weyerer Synagoge. (Bildquelle: http://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/u-z/2084-weyer-hessen)
Bedeutend ist der jüdische Friedhof in Weyer mit 58 erhaltenen Grabsteinen, der bis ins 18. Jh. zurückgeht. Zwischen 1933 und 1940 wohnten 17 jüdische Mitbürger in Weyer, drei starben in ihrem Heimatort – davon zwei infolge der Verfolgung, fünf flohen nach Brasilien vier wurden deportiert und ermordet, eine Frau wählte nach der Deportation den Freitod, ein Mann zog nach Weilburg und konnte nach Brasilien flüchten, eine Frau zog nach Beerfelden und wurde von dort deportiert und ermordet, zwei Frauen zogen nach Frankfurt in ein Altersheim, eine davon starb dort unter nicht ganz geklärten Umständen, die andere wurde von dort deportiert und ermordet.
Emil Simon - Emil Simon aus Weyer kämpfte im Ersten Weltkrieg und erhielt hohe militärische Auszeichnungen. Bevor er 1938 auswanderte, rissen ihm die Nazis die Ehrenzeichen von der Brust. (Bildquelle: Juden im Kreis Limburg-Weilburg. Schriftenreihe zur Geschichte und Kultur des Kreises Limburg-Weilburg 1991.)
Am ehemaligen Synagogengebäude wurde 1990 eine Hinweistafel angebracht.
In unsere Region befinden sich auch zwei Orte des organisierten Krankenmords („Euthanasie“) im Nationalsozialismus: die Tötungsanstalt Hadamar mit ca. 14.500 Opfern, davon allein ca. 10.000 in der „Aktion T4“ 1940/41 und die „Zwischenanstalt“ Weilmünster mit ca. 3000 Opfern 1940-1945. Auf die massenhafte Ermordung während der „Aktion T4“ folgte die „wilde Euthanasie“ mit Schwerpunkt Weilmünster – hier ließ man die Patienten verwahrlosen, verhungern, oder tötete sie durch Giftinjektionen.
Bisher sind zwei Opfer des Krankenmordes aus Villmar und eines aus Seelbach bekannt. Zwei Villmarer Geschwister mit geistiger Behinderung wurden in die Niederlande verbracht, haben dort überlebt und kehrten nach Villmar zurück. Im Villmarer Schwesternhaus wurden seit 1929 bis zu 12 Patienten aus Hadamar gepflegt. 1937 erfolgte auf behördliche Anordnung ihre Verlegung nach Weilmünster. Nach Auskunft der Gedenkstätte Hadamar wurden 1941 alle im Rahmen der Tötungskation T4 ermordet.
Es sollen nach derzeitigem Stand der Recherche 50-60 Stolpersteine im Marktflecken Villmar verlegt werden. Die Verlegung der ersten 19 Stolpersteine durch Gunter Demnig wird am Montag, 3. Februar 2020 an je zwei Verlegestellen in Villmar und Weyer erfolgen.
Villmar, Grabenstraße 3:
Isaak Ackermann | Leo Joseph Ackermann | Bertha Ackermann, geb. Adler | Gretel Moses, geb. Ackermann | Leopold Ackermann.
Villmar, Peter-Paul-Str. 44:
Johanna Rosenthal, geb. Saalberg | Salomon Rosenthal | Emmi Rosenthal, geb. Wolf | Liselotte Rosenthal.
Weyer, Brühlstraße 7:
Betty Blumenthal, geb. Hofmann | Karoline Schönberg, geb. Blumenthal | Albert Schönberg | Hermann Walter Schönberg.
Weyer, Laubusstraße 14:
Mina Saalberg, geb. Blumenthal | Ida Simon, geb. Saalberg | Emil Simon | Herta Irene Heymann, geb. Simon | Julius Heymann | Heinz Heymann.
Die STOLPERSTEINE werden über Spenden (120 € pro Stein) finanziert. Es sind auch anteilige Spenden möglich. Bankverbindung:
KAB Diözesanverband Limburg e. V.
IBAN: DE45 3706 0193 4000 6190 06
BIC: GENODED1PAX (Pax-Bank Köln)
Verwendungszweck (bitte unbedingt angeben!): STOLPERSTEINE
Bisher wurden schon 25 Patenschaften übernommen, aber es werden noch weitere Paten für die Stolpersteine gesucht. Auch Kinder und Jugendliche lassen sich durchaus für diese Gedenk- und Mahnthematik gewinnen. Der zehnjährige Emil Klum hat auf dem Pfarrfest durch Verkauf von leckerer selbstgemachter Limonade das Geld für einen Stolperstein (120 €) zusammenbekommen. Die Spende wurde auf dem Vortragsabend mit Gunter Demnig am 7. August 2019 offiziell übergeben.
Stolpersteine gegen das Vergessen
Gunter Demnig verlegt 19 „dezentrale Mahnmale“ im Pflaster öffentlicher Gehwege in Villmar und Weyer
Hunderte fahren täglich am Ende des Struther Weges in Villmar an einem Wiesengrundstück mit fünf verwitterten Gräbern vorbei, Fußgänger biegen dort um die Ecke zur Weilburger Straße. Nahe am Treppenaufgang zum jüdischen Friedhof steht seit 1988 ein Gedenkstein für die während der Nazizeit ermordeten „Mitbürger jüdischen Glaubens.“ Wer die von der Gemeinde gepflegten Gräber besuchen möchte, außerhalb von Samstagen und jüdischen Feiertagen, besagt ein Schild, kann den Schlüssel zum verschlossenen Türgatter auf der Gemeindeverwaltung holen. Wer geht hin? Wer kennt die Namen der Toten? Wer weiß von ihren Schicksalen?
Für die Antwort auf diese Fragen braucht der Bürger seit dem 3. Februar 2020 keinen Schlüssel mehr, er stolpert sozusagen über die Namen „Ackermann“ oder „Rosenthal“, wenn er durch die Grabenstraße oder die Peter-Paul-Straße geht. Er stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen über ein „dezentrales Mahnmal“, muss sich hinabbeugen, um die Inschrift auf den zehn mal zehn Zentimeter großen Messingplatten lesen zu können, eingelassen auf Betonwürfeln in das Pflaster des Bürgersteigs. Und er liest nicht nur Namen, sondern erfährt auch von Schicksalen. Ein Beispiel aus der Peter-Paul-Straße 44, im öffentlichen Gehweg vor einer Metzgerei:
„HIER WOHNTE
SALOMON ‘SALLY‘ ROSENTHAL,
JG. 1897,
BUCHENWALD
ERMORDET 28.12.1938“.
Ein Stolperstein von insgesamt 19, die an diesem Montag im Februar in Villmar und Weyer von dem Konzeptkünstler Gunter Demnig verlegt werden. Weitere circa 30 werden später folgen. Eine Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten, zunächst an die jüdischen, die seit 1933 gedemütigt, entrechtet, verfolgt und erschlagen oder in die Flucht getrieben wurden, (durch Selbstmord) „in den Tod geflüchtet“ oder durch unmenschliche KZ-Haft-Bedingungen erkrankt und gestorben sind, zu Millionen deportiert, vergast und in Massengräbern verscharrt. „Sie hatten nicht einmal einen Friedhof“, sagt Holocaust-überlebender und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, „wir sind ihr Friedhof.“ Und vielfach werden die Stolpersteine auch zum Gedenken an weitere Opfergruppen wie Sinti und Roma, Behinderte, politisch und religiös Verfolgte, Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene.
„Ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sein Name vergessen ist!“, heißt es im Talmud, einem der bedeutendsten Schriften des Judentums. Und das treibt Gunter Demnig seit über 20 Jahren an. 75 000 Stolpersteine in mittlerweile 26 Ländern sind verlegt, alle handgefertigt. Und er macht zur Bedingung: Sie müssen durch Spenden finanziert werden, die Gemeinden dahinter stehen, Jugendliche einbezogen sein. Die Steine sollen „Geschenke der Bürger an ihre Gemeinde sein“, verlegt am letzten frei gewählten Wohnsitz der Opfer.
Gemeinsames Engagement von KAB-Initiative und Jugendlichen
Das Stolperstein-Projekt in Villmar wurde über die „Katholische Arbeitnehmerbewegung“ (KAB), von deren Vorsitzenden Paul Arthen und Mitglied Helmut Hübinger initiiert. Nachdem die Gemeindevertretung des Marktfleckens am 14. Februar 2019 überparteilich mit großer Mehrheit den Weg für die Verlegung von Stolpersteinen bereitet hatte, gründete sich ein Arbeitskreis. Unter Federführung von Bernold Feuerstein, KAB-Mitglied und Vorsitzender des Ortsausschusses Villmar (Pfarrei Hl. Geist Goldener Grund / Lahn), wird recherchiert, gesammelt und dokumentiert. Die Rektorin für die Sekundarstufe I der Johann-Christian-Senckenberg-Schule Runkel-Villmar, Isabelle Faust, und ihr Wahlpflichtkurs „Erinnerungskultur“ wurden mit ihren Recherchen zum jüdischen Leben in Villmar ebenfalls Teil des Arbeitskreises. Die Öffentlichkeit wird informiert. Schnell kommen Spenden für die ersten Stolpersteine zusammen. Sogar der zehnjährige Emil Klum hat auf dem Pfarrfest durch Verkauf von selbstgemachter Limonade das Geld für einen Stolperstein (120 Euro) zusammenbekommen.
Eine erste Schülergeneration „Erinnerungskultur“ hatte bereits mit Isabelle Faust Einzelschicksale der Toten auf dem Runkeler Kriegsgräberfriedhof erforscht und dafür 2019 den „Jugendfriedenspreis“ des Landkreises Limburg-Weilburg erhalten. Die dritte Schüler-Generation arbeitete nun auf den Höhepunkt der bisherigen Arbeit hin: der Verlegung der Stolpersteine. Am 9.11. 2019 schon gestalteten sie einen Gottesdienst zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 mit. Jetzt sind sie es, die mit etwa 150 sichtlich bewegten Villmarer Bürgern Gunter Demnig und seinem Helfer Manuel Engelmann vom Bauhof zusehen, wie sie ein Loch ins Pflaster schneiden und Demnig die Betonwürfel schließlich eben einsetzt, einzementiert und poliert. Die Mädchen und Jungen legen weiße Rosen auf die Stolpersteine, entzünden Kerzen, andere tragen die Namen der Opfer und ihr Schicksal vor und lassen schließlich beschriftete Karten an Luftballons in den Himmel schweben. Sicco Goldetti aus Limburg spricht dazu das jüdische Totengebet, „für das Aufsteigen ihrer Seelen…in das Band des ewigen Lebens“. Manche wischen verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln.
Gedenkkonzert in der Kirche St. Peter und Paul
Den Opfern soll „Wahrheit und Gerechtigkeit widerfahren“, so zitierte Feuerstein im Gedenkkonzert am Vorabend aus „Dämmerung“ des Philosophen Max Horkheimer aus dem Jahre 1934. In der Villmarer Kirche St. Peter und Paul vereinigte die Musik konfessi-onsübergreifend die „Shalom Singers“ der jüdischen Gemeinde Frankfurt und fünf weitere Chöre aus Villmar und Weyer, dazu Michael Loos (Orgel) und David McDonald (Cello) u.a. mit „Kol Nidrei“ von Max Bruch. Das von Feuerstein mit Unterstützung von TOCCATA Orgelkultur und der Sparkassen-Stiftung Limburg-Weilburg organisierte Konzert hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei den Musikern und Zuhörern.
Eine ähnliche Atmosphäre erleben jetzt die Augenzeugen der Stolpersteinverlegung. Daniel Rosenthal (63), ein Großneffe von Sally Rosenthal, ist aus Bad Homburg gekommen, um den Zeremonien beizuwohnen. Seine Familie überlebte durch Flucht nach Argentinien. Jakob Höhler (94) hat sich im Rollstuhl an die Erinnerungsorte schieben lassen, er kann sich noch gut an seine jüdischen Nachbarn erinnern. Genauso wie die 91-jährige Maria Baier aus Villmar, ebenfalls im Rollstuhl, warm eingepackt, geschoben von ihrem Mann Reinhard (92). Sie wollen mit ihrem Kommen die Toten ehren. Jugendpflegerin Cornelia Döring ist mit Mitgliedern des von ihr betreuten Kinder- und Jugendparlaments dabei. Alle Umstehenden blicken ernst, unterhalten sich leise, sind sich der Bedeutung des würdigen Geschehens bewusst.
Bürgermeister Matthias Rubröder dankt Gunter Demnig, den Mitgliedern des Arbeitskreises, der Schule und allen Spendern, die „ein Gedenken mitten im Alltag“ möglich machten. Er denkt an die anderen Erinnerungsorte jüdischen Lebens in Villmar und Weyer, den Judenfriedhof dort mit 58 Gräbern, an Synagogengebäude in beiden Orten. Rubröder spannt den Bogen von der Gefahr des Vergessens bis zur „Mahnung für Gegenwart und Zukunft gegen Hass und Ausgrenzung.“
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung (jüdische Weisheit)
In der Grabenstraße erinnern jetzt Solpersteine an Joseph, Bertha und Leopold Ackermann, an Isaak und Enkelin Gretel Ackermann, in der Peter-Paul-Straße an Johanna, Salomon, Emmi und Liselotte Rosenthal. In Weyer erinnert Gemeindevertreterin Gertrud Brendgen vom Arbeitskreis bei Demnigs Stolpersteinverlegung in der Laubusstraße 14 an Mina Saalberg, Ida und Emil Simon, Herta Irene, Julius und Heinz Heymann: „Hier geschah etwas, was nie hätte geschehen dürfen und was nie wieder geschehen darf.“ In der Brühlstraße 4 liegen Stolpersteine für Betha Blumenthal, Karoline, Albert und Hermann Walter Schönberg.
Gunter Demnig, inzwischen 72 Jahre alt, hat schon 2015 entschieden, dass sein Kunstprojekt der „sozialen Skulpturen“ auch ohne ihn weiterleben soll, mit der Gründung der „Stiftung – Spuren – Demnig“. Weltweit inspirieren diese Spurenlegungen also auch noch lange viele Menschenrechtsaktivisten. Ganz in seinem Sinne geht in Villmar die Zusammenarbeit mit Jugendlichen in die Zukunft. Wenn sie, auch durch die Pflege der Stolpersteine, sich immer wieder neu an die ungeheuerlichen Verbrechen der Nazis erinnern, wirkt dies als Mahnung, schon den Anfängen zu wehren, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln, wenn irgendwo im Alltag die Würde eines Menschen angetastet wird. Isabelle Faust ist sehr glücklich darüber, dass sie mit Hilfe von Bernold Feuerstein zusammen mit ihren Schülern auch künftig in regem Kontakt stehen kann mit Jodi Moses, der Enkelin von Gretel Moses, geborene Ackermann, aus der Villmarer Grabenstraße 3: „Jodi und ihre Familie sind überwältigt von der Aktion, kannten Stolpersteine vorher gar nicht und sind sehr berührt von der Erinnerung an ihre Ahnen.“
Fotos und Text: Jürgen Weil